Autor: Gerhard Kero

Um Werkzeug zu produzieren, bedarf es entsprechender geistiger Fähigkeiten. Vor etwa 1,75 Millionen Jahren begannen mit Beginn der Acheuléen-Kultur menschliche Vorfahren vergleichsweise moderne Universalgerätschaften wie Faustkeile mit zweiseitiger Klinge zum Schneiden, Hacken und Schaben herzustellen. Bis 2016 wurde davon ausgegangen, dass vor allem die Entwicklung der Sprache den Anschub zu dieser Innovation begünstigte. In neuroarchäologischen Experimenten konnte eine Forscher_innengruppe rund um Shelby S. Putt zeigen, dass beim modernen Menschen für das Herstellen beidseitiger Faustkeile die gleichen neuronalen Netzwerke aktiv sind wie beim Spielen von Musikinstrumenten. Die bis dahin angenommene Korrelation mit der Sprache bestätigte sich jedoch nicht. Da Hominiden im Altpaläolithikum vor rund eineinhalb Millionen Jahren wohl über keine elaborierte Sprache verfügten, scheint der technologische Fortschritt vom musikalischen Netzwerk im Gehirn und nicht vom Sprachzentrum ausgegangen zu sein. Putt et al. vermuten, einen Wendepunkt in der Evolution des menschlichen Gehirns entdeckt haben, der zu einer neuen Menschenart führte und schlussfolgern, dass der acheulische Werkzeugbau möglicherweise mehr evolutionäre Beziehungen zum Spielen von Mozartsonaten hat als das Zitieren von Shakespeare 1.

Die Idee eines gemeinsamen Ursprungs von Musik und Sprache geht in der Neuzeit auf den Genfer Denker der Aufklärung Jean-Jacques Rousseau zurück. Auch der Begründer der Evolutionstheorie Charles Darwin postulierte in seinem 1871 erschienenen Werk The Descent of Man and Selection in Relation to Sex, dass die Vorfahren der Menschen sich gegenseitig mit Musik und Rhythmus betörten, bevor sie die Fähigkeit erlangten, ihre gegenseitige Zuneigung in artikulierter Sprache auszudrücken 2.

Zu der Hypothese über den ursprünglichen Zweck menschlicher Musik als Mittel der Brautwerbung gelangt Darwin, indem er aus der biologischen Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch auch eine Verwandtschaft zwischen tierischer und menschlicher Kommunikation ableitet 3. Die Evolutionstheorie gilt nicht nur in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch in der breiten westlichen Gesellschaft als eine der am besten abgesicherten Theorien überhaupt. Auf ihr beruhen die fundamentalen Modelle eines modernen Weltbildes im Kontext einer abstammungshistorischen Entwicklung der Arten. Mit seinen nächsten Verwandten teilt der Mensch je nach Analysemethode zwischen 94% und 99% seines Erbgutes, mit der Hauskatze knappe 80% und mit einer Banane immerhin noch 55%. Trotz offenkundiger Unterschiede sollte daher laut Lehmann 4 zumindest in der Klasse der Wirbeltiere ein hoher Grad an Ähnlichkeiten zwischen vergleichbaren physiologischen Vorgängen, die eine genetische Grundlage haben, zu erwarten sein. Seit jeher wird Vögeln ausgeprägte Musikalität zugeschrieben, wie schon der in der zoologischen Taxonomie für eine 4000 Arten umfassende Unterordnung der Sperlingsvögel etablierte Begriff Singvogel deutlich macht.

Unter Musilanguage wird der evolutionäre kommunikative Vorgänger verstanden, aus dem sich Sprache und Musik entwickelt haben. Obwohl Kinder über kein explizites Wissen grammatikalischer Strukturen von Sätzen und Wortformen verfügen, wenden sie die Regeln, wie sie Liedmelodien singen (ohne explizit über Intervalle, Tonhöhen und Skalen Bescheid zu wissen), zumeist ebenso richtig an. Der Bereich mit den größten Überschneidungen zwischen Sprache und Musik ist die Prosodie. Einzelne prosodische Merkmale lassen sich als Bausteine definieren, deren Kombination und Ausprägung (Lautstärke, Tonhöhe, Lautdauer, Sprechpause) unterschiedliche Komponenten (Akzent, Intonation, Sprechtempo, Rhythmus) ergeben 5

Instrumente wie beispielsweise die häufig als Königin der Instrumente bezeichnete Orgel scheinen auf den ersten Blick ob ihrer vielfältigen Möglichkeiten und Klangfülle der menschlichen Stimme überlegen zu sein. Die menschliche Stimme hat jedoch eine Eigenschaft, die sie über jedes Instrument hervorhebt: sie kann Sprache vermitteln. Auch Instrumente können Informationen wie Melodien, Stimmungen oder Töne übertragen. Im Vergleich zur artikulationsfähigen Stimme, die Informationen völlig variablen Inhalts in verdichteter Form vermitteln kann, entspricht dies aber nur einem gesungenen Lied ohne Worte 6

Die Parallelen zwischen musikalischer und sprachlicher Melodiewahrnehmung werfen die Frage auf, warum sich diese so unterschiedlich in Bezug auf subjektive Erfahrung auswirken. Während musikalische Melodien einen Ohrwurm erzeugen können und tagelang im Kopf kreisen, erinnern wir uns selten an die Klangmuster gesprochener Melodien. Ein Grund dafür ist möglicherweise, dass musikalische Melodien viel  mehr Wahrnehmungsbeziehungen erzeugen als gesprochene Melodien 7. So wie Menschen mühelos tonale innere Dialoge führen können, hören sie auch Musik, wo keine klingt. Bei auditiven Imaginationen generiert das Gehirn offensichtlich selbständig in den kortikalen Assoziationsfeldern neuronale Erregungsmuster, die denjenigen gleichen, welche von realen akustischen Ereignissen hervorgerufen würden 8.

Säuglinge fühlen sich geborgen, wenn sie am Körper der Bezugsperson getragen werden, also klammerten sich die Babys unserer Vorfahr_innen an das Fell der Mutter. Da dieses im Laufe der Menschwerdung abhanden kam, wurde das Klammern immer schwieriger. Hinzu kam die kreative Intelligenz, die das Gehirnvolumen zunehmen ließ. Die Anthropologin Dean Falk (2004) formulierte die Hypothese, dass der Trend zur Vergrößerung der Gehirne späten Australopithecinen bzw. frühen Homo immer mehr die Geburt erschwerte und sich eine selektive Verschiebung zu relativ unentwickelten Neugeborenen ergab. Um das Kontinuum der sicheren Bindung aufrecht zu erhalten, bedurfte es über den Körperkontakt hinaus einer komplementären Strategie. 

Das Wiegenlied ist ein adaptives und intuitives Verhaltenskonzept, das lebenswichtige biologische Bindungsfunktionen erfüllt und in allen Kulturen der Erde vorkommt. Mütterlicher Gesang für das Kind ist demnach eine Universalie, und eine – vielleicht sogar die stärkste – evolutionäre Wurzel unserer Musik und unserer Musikalität 9. Mütter entwickelten neue Futtersuchstrategien, welche die Beruhigung und die Kontrolle des Verhaltens von körperlich entfernten Säuglingen ermöglichte. Da Mütter zunehmend prosodische und gestische Codes verwendeten, um Jugendliche zum Benehmen und Folgen zu ermutigen, wurde die Bedeutung bestimmter Äußerungen (Wörter) konventionalisiert 10

Kinder erkennen den emotionalen Gehalt von gesungener Musik viel früher als den von Sprachmelodie. Daher neigen Menschen beim Sprechen zu Säuglingen dazu, die Grundfrequenz der Stimme stärker zu modulieren und damit die Sprache emotionsgeladener und zugleich musikalischer zu machen 11. Dieser eigens für sie verfremdeten Sprache hören sie lieber zu als normaler Sprache, was die Wichtigkeit von Wiegenliedern in der Entfaltung sowohl verbaler als auch nonverbaler bzw. emotionaler Kommunikation unterstreicht. 

Musik ist aus evolutionärer Sicht die Grundlage der Sprache. 

Der Tonumfang bewegt sich bei gesprochener Sprache im Bereich einer Quinte. Im Dialog mit Kleinkindern schnellt er bei deutlich variablerer Sprachmelodie und im Mittel höherer Tonlage auf nahezu zwei Oktaven hinauf. Die Veränderung der Sprechweise im Dialog mit einem kleinen Kind geschieht weitgehend unbewusst, sie ist keine Zivilisationserscheinung, sondern bei den verschiedensten Völkern rund um den Globus zu beobachten 12

Diese unter den Termini Motherese, Baby-Talk oder Ammensprache bekannte, spontan auftretende Verhaltensuniversalie macht deutlich, dass Menschen über einen wesentlich größeren Stimmumfang als den beim herkömmlichen Sprechen verwendeten verfügen. Sie zeichnet sich in der Regel durch hohe Tonlage, deutliches Sprechen, übertriebene Satzmelodie, Pausen zwischen den einzelnen Phrasen, Betonung besonders wichtiger Wörter, Wiederholungen und Vermeidung komplizierter Sätze aus. Man kann beobachten, dass dieses Register auch gegenüber Ausländer_innen, geistig Behinderten, alten Menschen und kleineren Tieren angewendet wird 13. Das repräsentative Beispiel einer Ausnahme ist die japanische Sprache, in der Onomatopoesie in fast allen Bereichen vorkommt und nicht als Baby-Talk wahrgenommen wird 14

Über welche Musikalität ausmachenden Fähigkeiten verfügen Menschen im Gegensatz zu ihren tierischen Verwandten? „We can speak because we can sing“ 15 folgern die beiden Biologen Vaneechoutte & Skoyles ob der Tatsache, dass der Mensch beim Singen die volle Kapazität des Vokaltraktes, beim Sprechen aber nur Teile davon benutzt 16, und unterstützen damit die Annahme eines gemeinsamen Ursprungs von Musik und Sprache von Rousseau und Darwin. 

Der Professor an der Karl – Franzens Universität in Graz Leopold Mathelitsch (1995) untersuchte die Entwicklung des Stimmumfangs von Männern und Frauen im Laufe ihres Lebens, bei dem die Sprechstimmlage nur einen kleinen Bereich einnimmt (Abbildung). Dieser in der Natur der Stimme angelegte Tonumfang wird über kleine Muskeln des Kehlkopfes in Kooperation mit dem Gehör präzise geregelt bzw. audio-motorisch kontrolliert. Dieser Mechanismus geht allerdings weit über die Anforderungen des Sprechens hinaus, er ist dafür in keiner Weise erforderlich. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass er dem musikalischen Ausdruck dient.

 

 

Die menschliche Fähigkeit, stimmlich nicht nur durch Sprache, sondern auch mittels emotionserzeugender Melodien und gemeinschaftsinduzierender Rhythmen miteinander zu kommunizieren, wirft die Frage nach einem evolutionären Nutzen auf. „Da weder die Freude noch die Fähigkeit, Musiknoten zu produzieren, dem Menschen in Bezug auf seine täglichen Lebensgewohnheiten den geringsten Nutzen bringt, müssen sie zu den mysteriösesten gezählt werden, mit denen er ausgestattet ist“ 17

Eine evolutionäre Adaption ist das, was absichtslos in der Natur entstanden ist. Sie ist wertfrei, hat sich aufgrund einer Funktion evolutionär stabilisiert und ist Bestandteil der Identität einer Art. Geht es nach dem Professor für Psychologie an der Harvard University Steven Pinker, dann erfüllt Musik analog zu einem süßen Genuss einzig die Funktion, Vergnügen zu bereiten. Er vergleicht Musik mit einer verführerischen Süßspeise, welche die sensitiven Punkte von mindestens sechs unserer geistigen Kapazitäten zu reizen imstande ist 18

Pinker 19 stellt in den Raum, dass unserer Spezies die Musik genommen werden kann, ohne dass sich im Gegensatz zu Sprache, Sehfähigkeit, sozialer Schlussfolgerung und physikalischen Kenntnissen das menschliche Leben in den übrigen Bereichen grundlegend verändern würde. Wie Sprache ist auch Musik eine Universalie: wie auf der ganzen Welt Bezugspersonen mit Babys in speziellem Tonfall kommunizieren, so singen Mütter ihre Kleinkinder überall auf der Welt in den Schlaf. „Mütter singen ausdrucksstark, während sie sich um Säuglinge kümmern. Ein solches Singen dient der Regulierung von Emotionen, je nach Kontext zur Förderung von Ruhe, Schlaf, spielerischem Engagement oder Stressabbau. Säuglinge, die auf diesen Gesang ansprechen, fördern das Weitersingen der Mutter. Der intuitive didaktische Aspekt in der Betonung der Tonhöhe und der zeitlichen Struktur der Wiegenlieder wird durch markante Mimik im Face-to-Face-Kontext unterstützt und animiert die Säuglinge zur Imitation. Mit zwei Jahren produzieren viele Kleinkinder Gesang, der Tonhöhenkonturen, Rhythmen und die ungefähre Bandbreite vertrauter Liedern berücksichtigt 20.

Der Blogbeitrag enthält Auszüge des 2019 im Hollitzer Wissenschaftsverlag erschienenen Werkes Sprechen Sie Rhythmus (Gerhard Kero)

Quellenverzeichnis

Kurzbelege

  1. vgl. Putt et al. 2017, S.1
  2. vgl. Darwin 2016, S. 605
  3. vgl. Lehmann 2010, S. 25
  4. 2010, S. 26
  5. vgl. Sallat 2012, S. 93
  6. vgl. Mathelitsch 1995, S. 12
  7. vgl. Patel 2010, S. 204f
  8. vgl. Lehmann und Chaffin 2008, S. 363
  9. Lehmann 2010, S. 71
  10. Falk 2004, S. 491
  11. vgl. Spitzer 2005, S. 386
  12. vgl. Lehmann 2010, S. 53
  13. vgl. Dittmann 2002, S. 28
  14. vgl. Raluca 2014, S. 297
  15. Vaneechoutte & Skoyles 1998, S 2; zit. n. Lehmann 2010, S. 53
  16. vgl. Lehmann 2010, S. 53
  17. Darwin 1871, S. 600
  18. vgl. Pinker 2011, S. 663
  19. 2011, S. 656
  20. vgl. Trehub & Gudmundsdottir 2014, S. 1

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