Autor: Gerhard Kero

Was ist das denn überhaupt, eine Kompetenz?

In der modernen Psychologie herrscht um diesen unscharfen Begriff mit seinen zwei radikal unterschiedlichen Bedeutungen eine handfeste Sprachverwirrung:

Für die einen bedeutet Kompetenz Zuständigkeit oder Berechtigung, für die anderen Können oder Fähigkeit. Natürlich würden beide Seiten gerne ein Erstverwertungsmonopol für sich in Anspruch nehmen.

Seit uns Bologna Verträge beschert hat ist der Begriff integrierter Bestandteil des europäischen Bildungswesens: Kompetenzen sind geistige bzw physische Fähigkeiten zur Selbstorganisation in komplexen und zukunftsoffenen Situationen und können sowohl über organisierte Bildungsprozesse und informelles Lernen, als auch über nonformale Bildung, also Lernen „en passent“ und Sozialisation erworben werden. Lernen ist Aneignung – intentional oder unbeabsichtigt, fokussiert oder einfach nebenbei.

Beim Begriff der Sozialen Kompetenz tritt das Dilemma der Unschärfe noch deutlicher zutage, da der Kompetenzbegriff in Verbindung mit dem ebenfalls diffusen Begriff “sozial” auch inhaltlich kaum Konturen erkennen lässt.

Bei aller Unschärfe – geht es um Sozialkompetenzen, ist meist intuitiv klar, was damit gemeint ist: Sozial kompetent ist, wer Kontakte knüpfen und tragfähige Beziehungen aufbauen und halten kann. Ein zentrales Kriterium zur Beurteilung sozialer Kompetenz ist die Bewältigung einer sozialen Situation.

Soziale Kompetenz umschreibt das Verhalten von Menschen gegenüber Menschen und lässt sich ob des multidimensionalen Charakters nicht durch eine einzige Pauschalkompetenz determinieren. Empirisch abgesicherte und anerkannte Taxonomien existieren bislang nicht. Manche Autor*innen stellen auf der Basis von Plausibilitätsbetrachtungen Kompetenzkataloge zusammen, andere wiederum verorten Sozialkompetenz kontextbezogen: Sozial kompetentes Verhalten findet in einer Gruppe männlicher Punks wohl eine andere Ausprägung als in einer Banken – Vorstandssitzung 1. Wer in einem Bereich sozial kompetent ist, muss dies nicht in einem anderen sein.

Auf der Suche nach gemeinsamen Nennern drängen sich vier soziale Schlüsselkompetenzen auf:

 

  1. Kommunikationsfähigkeit
  2. Beziehungsfähigkeit
  3. Anpassungsfähigkeit
  4. Kooperationsfähigkeit

 

Diese vierteiligen Blogserie macht deutlich, wie sehr rhythmische Interaktion und Koordination zwischen Menschen alle vier Sozialkompetenzen trainiert. Nehmen wir diesmal die Kommunikationsfähigkeit unter die Lupe:

Ein Teil unserer Kommunikation funktioniert über die Sprache, und diese folgt rhythmischen Mustern. Die rhythmischen Aspekte verbaler Reize erregen die Aufmerksamkeit schon von Säuglingen, da sie soziale Interaktionen fördern.

Ein anderer Teil unserer Kommunikation, immerhin in der Größenordnung von ca. 70% funktioniert über nonverbale Mechanismen, zB über Protokonversation: rund drei Sekunden anhaltenden Abfolgen intensiver, aber unbewusster Interaktion zwischen Babys und ihren Müttern repräsentieren die allerersten Kommunikationsformen, mit denen Menschen konfrontiert sind – Kompositionen aus Blicken, Berührungen und wohligen Geräuschen. Mikroanalytisch angelegte Untersuchungen zeigen, dass Mutter und Baby Anfang, Ende und Pausen solcher Sequenzen zeitlich genau koordinieren und damit einen gekoppelten Rhythmus erzeugen 2. Beide stimmen ihr eigenes Verhalten mit dem des bzw. der Anderen ab und tauschen dadurch Mitteilungen aus.

Bei diesen frühkindlichen, kulturübergreifenden Übungsstunden internalisiert das Baby die grundlegenden Bausteine von Interaktionen. Es ist also nicht verwunderlich, wenn wir den gesprochenen Inhalt der Mitteilung eines Gegenübers durch dessen Gestik und Mimik bestätigt wissen wollen und uns unwohl fühlen, wenn wir diese als nicht deckungsgleich identifizieren und intuitiv zu Recht als paradox oder verstörend erleben. Paul Watzlawick und Gregory Bateson entwickelten anhand dieser Erkenntnis die Doppelbindungstheorie.

Menschen lernen, sich emotional aufeinander zu beziehen, lange bevor sie Begriffszuordnungen zu den entsprechenden Gefühlen entwickelt haben. Die menschliche Kommunikation ist durch Rhythmen und Ausdrucksformen der Körperbewegung, einschließlich Vokalisierung und Gesichtsausdrücke, erstaunlich gut vorbereitet. Protokonversation synchronisiert und harmonisiert Menschen miteinander und begleitet sie ihr Leben lang durch soziale Begegnungen. Nonverbale Dialoge über Gefühle bilden das lebenslange Fundament für Beziehungen und sind verborgenes Ziel jeder Interaktion 3.

Da die Entwicklung von Musik und Sprache einhergingen, liegt der Schluss nahe, dass Kommunikation durch beide erfolgen kann. Rhythmus und Musik sind echte menschliche Universalien, denn sie kommen bei allen Menschen in allen Kulturen und Epochen vor. Musik zu praktizieren ist ein menschlicher Instinkt.

In Zeiten, als die Kulturtechnik Sprache noch weniger ausdifferenziert war, bedienten sich Menschen dieser nonverbalen Kommunikationsformen Musik und Rhythmus. Und das ist auch heute noch so: In der traditionellen Musik Afrikas sind erstaunlicherweise die Rhythmen selbst ein spezieller Text. Keine Abhandlung über afrikanische Musik wäre vollständig ohne eine Beschreibung der sprechenden Trommeln 4.

Kommunikationskompetenz und soziale Bindung werden durch rhythmische Koordination auf neuronaler Ebene stimuliert: die neuronale Ausrichtung während eines koordinierten Verhaltens ermöglicht den Zugang zu den Zuständen anderer Menschen und bildet somit eine wichtige Grundlage für die soziale Wahrnehmung und ein Gerüst für Kommunikation 5.

Der Musikforscher und Psychologe Peter Keller beschreibt anhand einer Studie von Hove & Risen, dass zwischenmenschliche Koordination zu einem größeren sozialen Zusammenhalt, besserer Zusammenarbeit und größerem Vertrauen führt: Die Partizipient*innen klopften mit ihren Fingern eine visuell vorgegebene Sequenz. Neben ihnen saß eine Person, die den Versuch leitete. Sie klopfte ebenfalls, einmal dieselbe, einmal eine andere und einmal eine willkürliche Abfolge. Die Teilnehmer*innen bewerteten diese Person eindeutig sympathischer, wenn synchron geklopft wurde. Mit dem Grad der Timinggenauigkeit ließen sich die später vergebenen Sympathiewerte vorhersagen. Bewertungen unter Ruhekontrollbedingungen glichen denen unter Asynchronizitätsbedingungen. Das zeigte, dass Synchronizität Zugehörigkeit mehr steigert, als Asynchronizität sie abnehmen lässt. Aktivitäten, die rhythmische zwischenmenschliche Koordination beinhalten (Marschieren, Arbeitsgesänge, religiöses Ritual, Tanz, Musik…) werden seit langem genutzt, um die soziale Bindung zu stärken. Zwischenmenschliche Synchronität führt zu einem erhöhten sozialen Zusammenhalt 6.

Die Induktion eines isochronen Pulses eröffnet nicht nur die Möglichkeit zu antizipatorischer (vorausahnender) Rhythmuswahrnehmungen, sondern auch zu physischer und sozialer Synchronisation. Antizipation ist demnach die Grundlage jeglicher Synchronisierungsleistung. Synchronisierte Handlungen verschaffen den Mitgliedern einer Spezies aus evolutionstheoretischer Sicht zahlreiche Entwicklungsvorteile. Die bewusste Synchronisation bezieht sich beim Menschen nicht mehr nur auf die vergleichsweise langen Zyklen in der natürlichen Umwelt, sondern ebenso auf die Koordination von Handlungen im sozialen Zusammenleben 7.

Die Wirkung von Rhythmus geht noch wesentlich über die Koordination sichtbarer Bewegungen hinaus, denn durch äußere akustische Taktgeber können unbewusste, periodisch ablaufende vegetative Funktionen – z.Bsp. Atmung, Puls, Blutkreislauf und die elektrische Aktivität des Gehirns – in hohem Maße beeinflusst werden 8.

Eine 2009 durchgeführte EKG-Studie lieferte Hinweise, dass während der spontanen Synchronisation zwischen zwei Menschen, die die regelmäßigen Fingerbewegungen des jeweils anderen beobachteten, das Spiegelneuronensystem aktiviert wurde 9.

Dass zwei Personen, die eine wiederkehrende Bewegung der Extremitäten bewusst ausführen, dies leichter im gleichen Rhythmus können als im gegensinnigen oder völlig unzusammenhängenden, ist schon länger bekannt. Darauf aufbauend ließen Michael J. Richardson und Kerry L. Marsh von der University of Connecticut nebeneinander befindliche Versuchspersonen jeweils ein Pendel schwingen und fanden heraus, dass sich die Pendel vergleichsweise viel öfter in exakter Phase oder exakter Antiphase befanden, als dies zufällig der Fall gewesen wäre. Selbst dann, wenn es keinerlei entsprechenden Instruktionen gab!

Um die bewusste Kontrolle so weit als möglich auszuschliessen, wählten Richardson und Marsh ein anderes Gerät, mit dem die Bewegung ganz beiläufig erfolgt, wo aber sowohl der soziale Kontext als auch mechanische Randbedingungen dafür sorgen, dass man zu einem spontanen rhythmischen Verhalten hingezogen wird 10:

Es ist viel einfacher, ein Pendel zu halten, ohne es zum Schwingen zu bringen, als in einem Schaukelstuhl zu sitzen, ohne zu schaukeln. Die Bewegung in Letzterem ist demnach weit weniger intentional. Die Möglichkeit, allfällige Effekte bewusst zu steuern, ist nahezu auszuschliessen. Trotzdem glichen die Ergebnisse im Wesentlichen den Pendelstudien: Die Versuchspersonen stimmten ihre Bewegungen aufeinander ab, selbst dann, wenn die Schwingungsperiode der Schaukelstühle durch Gewichte verändert wurde. Sie schaukelten demnach überzufällig im Takt miteinander, selbst als sie auf Schaukelstühlen saßen, die ganz unterschiedliche natürliche Schwingfrequenzen hatten. Die Ergebnisse beider Experimente zeigten, dass die Teilnehmer*nnen mitgerissen wurden, wenn visuelle Informationen über die Bewegungen ihres Partners / ihrer Partnerin verfügbar waren, obwohl sie angewiesen waren, während des gesamten Versuchs ihr eigenes Tempo beizubehalten 11.


Abbildung: Pendelexperiment 12

Ob die Pendel- bzw. Schaukelexperimente ein erfolgversprechender Weg wäre, extraterrestrischen Wesen die menschliche Leidenschaft für Rhythmus und Musik zu erklären, sei dahingestellt.

Die Synchronisation unserer inneren Uhr mit periodisch wiederkehrenden Zeitgebern findet auch als Gruppenphänomen zwischen sich gegenseitig zeitgebenden Teams statt: Musikbands, die nicht unweit voneinander ihre Stücke spielen. Das Ergebnis einer im Empirical Musicology Review publizierten Studie zeigt, dass sich die Tempi der mobilen Congo-Groups beim jährlichen Congado-Festival in Conztagem, Brasilien, solange anglichen, bis sie synchronisiert waren.

Die für die Synchronisation zuständigen Oszillatoren in unserem Gehirn gleichen ihre Frequenzen fortwährend an, um mit dem von außen kommenden Signal rhythmisch übereinzustimmen. Die koordinierte Gemeinsamkeit eines Orchesters vollzieht sich also über die Gehirne der Musikerinnen und Musiker und macht vor den grauen Zellen der Publikumsmassen nicht halt. Ansteckungsprozesse können sich auf Gruppenebene in hoher Geschwindigkeit ausbreiten und sind ein bemerkenswerter Hinweis auf die gegenseitige Anpassung der biologischen Subsysteme, die alle in eine physiologische Synchronisation zwingt 13. Das Phänomen ist bidirektional – emotionale Synchronie kann körperliche Synchronie auslösen und körperliche Synchronie kann emotionale Synchronie produzieren 14.

Kurzbelege

  1. vgl. Brosius 2009, S. 261
  2. vgl. Goleman 2008, S. 59
  3. vgl. Goleman 2008, S. 61
  4. vgl. Chernoff 1994, S. 99
  5. vgl. Keller 2014, S. 8
  6. vgl. Keller 2014, S. 7f
  7. vgl. Pfleiderer 2006, S. 44
  8. vgl. Hesse 2003, S. 51
  9. vgl. Kirschner & Tomasello 2009, S. 312
  10. vgl. Richardson et al. 2005, S. 62-79, zit. nach Spitzer 2012, S. 181
  11. vgl. Richardson et al. 2005, S 73
  12. Richardson et al. 2005, S. 63
  13. vgl. Goleman 2008, S. 78
  14. vgl. Levenson und Ruef 1997, S. 68 f

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